Der Psychoanalytiker Irvin D. Yalom befasst sich in seinem 1992 erschienenen Roman Und Nietzsche weinte mit den Anfängen der Psychoanalyse. Dramaturgischen Pfiff erzielt der Autor indem er Josef Breuer und Friedrich Nietzsche aufeinandertreffen lässt. Die Zeitgenossen sind sich im wahren Leben nie begegnet, doch ein Thema eint sie: die Obsession für eine Frau. Der Arzt und der Philosoph setzen sich in schmerzvollen Gesprächen mit ihrer Verzweiflung auseinander, wobei Nietzsche die Rolle des Arztes, Breuer die des Patienten einzunehmen scheint. Als Nebenfigur und Breuers Schützling wirkt Sigmund Freud, der kurze Zeit später die Psychoanalyse begründen sollte.

Fin de siècle, 1882: Die junge Russin Lou Salomé sucht den bekannten Wiener Arzt Josef Breuer auf. Ihr Anliegen ist ebenso dringend wie ungewöhnlich: Breuer soll ihren Freund Friedrich Nietzsche von der Verzweiflung kurieren!
Es gibt keine Arznei gegen die Verzweiflung, keinen Arzt für die Seele.
Breuer in Und Nietzsche weinte von Irvin D. Yalom
Lou Salomé beharrt, sie habe von Breuers Erfolgen einer neuartigen „Redekur“ gehört, die er bei seiner Patientin Anna O. angewandt habe. Wahrhaftig, Breuer entdeckte, dass ein (körperliches) Symptom von selbst verschwindet, nachdem die Patientin über dessen auslösende (psychische) Ursache gesprochen hat. Wenn man nun Verzweiflung als Symptom betrachte? Die Freidenkerin Salomé drängt Breuer, seine Methode auch bei Nietzsche anzuwenden. Zögerlich willigt der Arzt ein. Mit einer List lotsen sie Nietzsche in Breuers Praxis. Der Kranke soll keinesfalls erfahren, dass Salomé vermittelt hat, denn Nietzsche leidet, seit sie seinen Heiratsantrag abgewiesen hat. Kein Arzt konnte bislang Nietzsche nachhaltig helfen, seine Krankenakte ist umfangreich. Der depressive Philosoph leidet vordergründig an einer Fülle von körperlichen Symptomen, besonders unter quälender Migräne. Nietzsche mag nicht so recht reden und zieht sich zurück, sobald Breuer sich ihm seelisch nähern will. So nutzt der Arzt einen Kniff: er bittet Nietzsche, ihn von seiner Obsession für seine Patientin Anna O. zu heilen. Bald scheint der tatsächlich verzweifelte Breuer weniger Arzt als Patient, während Nietzsche sich als Therapeut bei der Anwendung dieser „gänzlich neuen Wissenschaft, der Diagnostik der Verzweiflung“ nicht schlecht macht.
Ich kuriere keine Verzweiflung, Doktor Breuer, ich studiere sie. Verzweiflung ist der Preis, den man für die Selbsterkenntnis zu zahlen hat. So tief man in das Leben sieht, so tief sieht man in das Leiden.
Nietzsche in Und Nietzsche weinte von Irvin D. Yalom
Fazit
Und Nietzsche weinte ist ein aufschlussreiches Lehrstück über Psychologie und eignet sich zum Einstieg ins Thema. Yalom, Jahrgang 1931, schildert anhand seiner Protagonisten in eleganter und klarer Sprache anschaulich das Wesen der Psychoanalyse. Der erfahrene Us-amerikanische Psychotherapeut verwebt wahre Lebensumstände der Persönlichkeiten mit Fiktion und klärt darüber in einem Nachwort auf. Aber wie gut hätten Gespräche zwischen den beiden von Liebeskummer geplagten Männern psycho-logisch exakt wie geschildert ablaufen können und wie sehr hätten Breuer und Nietzsche von ihren tiefgründigen Gesprächen profitieren können? Man bedauert, dass sich die beiden nie getroffen haben, und so bleibt dem Leser, an den gedachten Gesprächen Breuers und Nietzsches zu partizipieren und ihrerseits zu profitieren.
Irvin D. Yaloms Probanden gehen in ihren Dialogen dem Übel auf den Grund, was auch ein bisschen Arbeit für den Leser bedeutet, denn eine Psychoanalyse bedeutet unbedingt Arbeit, Denkarbeit: schwere Arbeit an sich selbst, um die eigenen „Mitternächte der Seele“ – wie Nietzsche es nennt – zu ergründen. Yaloms Werk ist kein Leitfaden der Sorte Wie Sie in 5 einfachen Schritten sich selbst erkennen. So steht die hart erarbeitete Erkenntnis am Ende – und einige Tränen. Noch über allem steht Nietzsches Credo: „Werde, der du bist.“ Keiner jedoch scheint mehr Mühe damit zu haben als Nietzsche selbst.
Persönliches Fazit
Ohne Colin Farrell hätte ich das Buch womöglich nicht entdeckt. Er nennt Und Nietzsche weinte eines seiner Lieblingsbücher. So hat Farrell mich fast schicksalhaft zu einem Werk geführt, dessen Inhalt mich ungemein tangiert. Das oben abgebildete Mini-Taschenbuch mit 630 Seiten war zum Schluss vollgespickt mit Lesezeichen. Yaloms gehaltvoller Roman hat mir vor allem bestimmte bereits vorhandene eigene Erkenntnis bestätigt. Dieser Umstand stellt eine gewisse Wohltat für mich dar, zu wissen, dass meine Schlussfolgerungen in eigener Sache nicht irrig sind. Erkenntnis ist das eine, die Lösung eines Problems das andere. Länger schon halte ich es mit Fjodor Dostojewski, dessen Protagonist in Aufzeichnungen aus dem Kellerloch zu dem Schluss kommt, dass die Erkenntnis an sich eine Krankheit sei. Diese auch Aufzeichnungen aus dem Untergrund genannte Niederschrift eines Mannes mittleren Alters die eigene Existenz betreffend schätzte schon Nietzsche. Auch Yalom zitiert an einer Stelle kurz aus Dostojewskis empfehlenswerten Roman. Bleibt mir, keine Farrell-Obsession zu entwickeln und mich den Worten von Yaloms Nietzsche anzuschließen: „Im Grunde kann keiner dem anderen helfen, immer muss man Kraft finden, sich selbst zu helfen.“ Vielen Dank, Colin Farrell!
Desperation will allow you to do incredible things in the name of survival.
Der Schauspieler Colin Farrell